Neuer Artikel zur Expertisebildung erschienen
Im Mai 2017 ist folgender Artikel von Beatrix Palt zur Expertisebildung durch kompetenzorientierte Ausbildung erschienen:
Kompetenzorientierte Ausbildung: Wie und wodurch bildet sich Expertise?
In Zeiten von demographischem Wandel, Digitalisierung, Globalisierung und einem Wertewandel, der mit verstärkter Individualisierung und der Frage nach der Sinnhaftigkeit beruflicher Tätigkeit einhergeht, sehen sich Organisationen und ihre Akteure vor die Herausforderung gestellt, in sich immer schneller ändernden Lagen und steigender Komplexität handlungsfähig und effektiv zu sein.
Daher rücken in der Personalentwicklung Modelle, z.B. die kompetenzorientierte Ausbildung, mit ihren ganzheitlichen didaktisch-methodischen Ansätzen in vielen Organisationen, auch der Bundeswehr, in den Fokus. Offen bleibt jedoch meist die Frage, wie Expertisebildung bei den Akteuren – Lernenden wie Lehrenden - stattfindet: Was ist Expertise? Wie findet Expertisebildung statt? Welches sind die Gelingensbedingungen seitens der Organisation und ihrer Akteure und wie kann die Entwicklung gemessen werden? Welche Folgen haben diese Erkenntnisse für die Personalentwicklung?
Ausgehend vom aktuellen Forschungsstand, empirischen Analysen und Projekten der Autorin als Unternehmensberaterin und Reservedienstleistende, werden theoretische Eckpfeiler und praktische Erfahrungen aus Sicht der Expertiseforschung diskutiert und Handlungsempfehlungen für die Personalentwicklung abgeleitet.
Die Expertiseforschung unterscheidet Novizen (Neulinge) und Experten. Experten erbringen in einem bestimmten Bereich (Domäne) exzellente Leistungen[1]. Die Leistungsunterschiede zwischen Novizen und Experten basieren auf kognitiven Fähigkeiten und der Erfassung von komplexen Sinnstrukturen in diesem Bereich. Im wissenschaftlichen Diskurs wird beschrieben, dass Experten einen deutlich höheren Wissensstand haben und dieses Wissen stärker strukturiert, besser vernetzt, leichter aktivierbar und in unterschiedlichen, komplexen Lagen anwenden. Experten bilden schneller, auf die relevanten Probleme fokussierte Hypothesen. Sie sind in der Lage, diese in der Schwebe zu halten, sie als Heuristiken für Suchprozesse zu nutzen, zu prüfen, zu validieren und ggf. zu verwerfen. Sie verfügen über Erfahrungswissen und nicht unbedingt über mehr, aber über ein tätigkeitsbedeutsames ganzheitlich organisiertes Wissen. Voraussetzung für kompetentes Handeln ist aus Sicht der Expertiseforschung „dass eine mehrjährige, intensive Beschäftigung mit dem Gegenstandsbereich erfolgt und dass umfangreiches Wissen erworben wird.“[2]
Zum Leidwesen von Personalentwicklung und Controlling gibt es keine lineare Input-Output-Beziehung beim Lernen: Es ist weder vorhersehbar noch steuerbar, wie sich Lernen vollzieht und was dabei herauskommt (vgl. Abb. 1). Das fünfstufige Entwicklungsmodell von Dreyfus & Dreyfus (1987) beschreibt die Entwicklung vom Novizen zum Experten von der „analytischen“ zur „intuitiven“ Entscheidung. Auf der Grundlage aktueller Forschungen (z.B. Gruber et al. 2010; Hetzner et al. 2015) sowie empirischer Untersuchungen und Erfahrungen der Autorin bei Projekten zur Organisations- und Personalentwicklung lassen sich folgende Eckpfeiler für die Personalentwicklung identifizieren:
1. Stufenprinzip: Die Entwicklung vollzieht sich von Stufe zu Stufe durch Wissenserwerb und Erfahrung. Jede Stufe muss durchlaufen, keine kann übersprungen werden. Die Verweildauer und der Weg durch die Stufen sind personenabhängig (Leistungsfähigkeit, Motivation, Intensität der Auseinandersetzung, Lernstrategien etc.). Jeder lernt anders.
2. Zeit: Expertisebildung kostet Zeit über die verschiedenen Stadien. Der Faktor Zeit korreliert mit der Intensität.
3. Lernumgebung: Feedback hilft. Unterschiedliche Personen benötigen unterschiedliches Feedback. Feedback muss die Qualität haben, zur Reflektion anzuregen. Nur reflektierte Erfahrung führt zur nächsten Stufe.
4. Erfahrungsräume: Raum für Selbstentwicklung und für das Lernen aus Erfahrung sind Grundvoraussetzung. Dazu gehören Wissenserwerb, die Bildung von Routinen und das Lernen durch Problemlösen.
Als Folge müsste Personalentwicklung sich stärker entlang der Frage organisieren: Was bringt was? Formale Bildungsinstrumente dienen vorrangig der Vermittlung von Fach- und Methodenwissen Vgl. Abb. 2). Wobei Bildungsinstitutionen zunehmend durch Simulationen und Planspiele komplexe und realitätsidentische Lernumgebungen organisieren, die Teilnehmende in „echte“ Lernsituationen versetzen können. Dies ist sinnvoll, da am Beispiel von Sportlern und Musikern empirisch belegt werden konnte[3], dass Üben, kreative Prozesse und Problemlösen die zentralen Eckpfeiler der Expertisebildung sind. Wir wissen auch, dass wir überwiegend informell lernen, einfach so, im Alltag und am Arbeitsplatz. Der folgende in der Bundeswehr oft zitierte Satz ist eben KEINE Binsenweisheit, wird jedoch in Forschung und Praxis unterschätzt und in der Personalentwicklung bei der Entwicklung von Karrierepfaden unzureichend berücksichtigt: „Schießen lernt man durch Schießen“.
Wie lassen sich diese Erkenntnisse für das Lernen am Arbeitsplatz operationalisieren und in pädagogisches Handeln überführen? Dazu sollten folgende Gelingensbedingungen beachtet werden:
§ Wollen, Können und Offenheit von Lernenden und Lehrenden
§ Anknüpfen an vorhandenes Wissen und an vorhandene Erfahrungen
§ Raum geben für: üben, üben, üben, aber auch für entdeckendes Lernen
§ Kreative Aufgaben und Problemlösungen initiieren
§ Zeit und Raum für Entwicklung geben: Operationalisiertes Workplace Learning
§ Organisation von Novizen-Experten-Tandems und von Peergroup-Tandems
§ Angebot an gleichwertigen Spezialisten- und Generalistenlaufbahnen
§ Berücksichtigen, dass Führungskompetenz auch eine Expertise ist, die den Grundsätzen der Expertisebildung folgt.
Als entscheidend haben sich in der Unternehmenspraxis folgende Kernaspekte herausgestellt:
1. Erweiterung des Expertisebegriffs im Hinblick auf Generalisten- und Spezialistenlaufbahnen: Auch eine Führungslaufbahn erfordert Expertisebildung, Expertise in Führung. Der klassische generalistische Ansatz, der auf dem schnellen Wechsel von Anforderungen in verschiedenen Bereichen basiert, konterkariert die Anforderung, sich durch langjährige Erfahrungen in einem Bereich zum Experten auszubilden. Der generalistische Ansatz führt daher eher zufällig zur Führungsexpertise bzw. zur Entdeckung der Expertise bei denjenigen, bei denen das sog. inhärente Phänomen auftritt, umgangssprachlich auch Naturtalent genannt. Gemeint sind diejenigen, bei denen wir die sichere Intuition für „die richtigen Dinge“ und „die Dinge richtig tun“ feststellen. Darüber hinaus muss aus Sicht der Expertiseforschung konstatiert werden, dass wir Generalisten und mithin Führungskräfte nicht gezielt entwickeln können, sie jedoch – genau wie Spezialisten – über die Zeit ihre Expertise ausbilden. Dies gilt es bei der Konzeption von Karrierepfaden zu berücksichtigen.
2. Sich von überholten Haltungen und Personalinstrumenten verabschieden und Potenziale nutzen: Niemand hat per se mehr Expertise aufgrund einer Führungsposition. In der Praxis erleben wir, dass Experten nur in Teilbereichen Experten sind (z.B. Vertrieb und/oder Führung und/oder fachliche Expertise und/oder pädagogische Eignung in einem Novizen-Experten-Tandem) und umgekehrt bereits Novizen in bestimmten Bereichen bereits aufgrund von Wissen und Erfahrung Experten sind. Zu beobachten ist daher, dass Novizen-Experten-Tandems zur gegenseitigen Entwicklung beitragen können. Neue empirische Untersuchungen (vgl. Hetzner et al 2015) haben zudem ergeben, dass Novizen-Novizen-Tandems genauso effektiv sind. Als Gelingensvoraussetzungen wurden weiche Faktoren identifiziert, wie gegenseitiges Vertrauen und Respekt sowie ein Gefühl von Sicherheit, das u.a. darauf basiert, aus Fehlern lernen zu dürfen. Ziel sind Entwicklungstandems jenseits von Hierarchie und Alter. Dies gilt es in der Unternehmens- und Führungskultur als Selbstverständnis zu implementieren.
3. Workplace-Learning operationalisieren: Davon ausgehend, dass wir wesentlich mehr informell als formal lernen, gilt es, das Lernen am Arbeitsplatz zu operationalisieren und den Lernerfolg messbar zu machen. Das erfordert seitens der Organisation Personalentwicklungsinstrumente, die Novizen und Experten als Leitlinie dienen, z.B. Kompetenzprofile, Lernzielvereinbarungen, in denen der Abholpunkt fixiert wird und Evaluationen, die den Lernfortschritt dokumentieren, sowie Bottom-up-Beurteilungen, die festhalten, wo organisatorische und/oder personelle Schwierigkeiten Expertisebildung behindern. Darüber hinaus gilt es – und hierin liegen derzeit die großen Herausforderungen in Projekten - in Organisationen die Experten mit ihren jeweiligen Domänen zu identifizieren, um diese effektiv in Tandems einbringen zu können: Wer kann was? Wie befähigen wir zu „echtem“ Feedback, das zur Selbstreflektion führt und wie zur „echten“ Selbstreflektion, die Expertisebildung fördert?
Dreyfus, H. L. & Dreyfus, S.E. (1987). In fünf Schritten vom Neuling zum Experten. In: Ebda. Künstliche Intelligenz. Von den Grenzen der Denkmaschine und dem Wert der Intuition. Reinbek bei Hamburg, 37-80.
Gruber, H. (1999). Erfahrung als Grundlage kompetenten Handelns. Bern.
Gruber, H., Ziegler, A. (1996). Expertiseforschung: theoretische und methodische Grundlagen. Opladen 1996.
Gruber, H. Jansen, P. & Marienhagen, J. et al. (2010). Adaptations During the Acquisition of Expertise. In: Talent Development & Excellence, Vol. 2, No 1, 3-15.
Hetzner, S., Heid, H. & Gruber, H. (2015). Using Workplace Changes as Learning Opportunities. Antecedents to Reflection in Professional Work. In: Journal of Workplace Learning, 27, 34-50.
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